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  • AutorenbildOffenes Herz

Mareike in Rumänien

Mareike ist seit Mitte des Jahres mit Offenes Herz in Rumänien. Hier veröffentlichen wir Ausschnitte ihres Rundschreibens von Ende Oktober.


Schon seit einigen Wochen erlebe ich hier einen echten osteuropäischen Herbst. Der Himmel hat seine Farbe von immer-blau zu fast immer-grau gewechselt. Die Sonnentage werden seltener. An diesen aber leuchten die Mischwälder auf den Hügeln rings um die Stadt in den schönsten Herbsttönen. Die Mischung aus gelben Birken, roten Buchen und grünen Nadelbäumen ist wie ein ständiges Feuerwerk. Dann gehen die Rumänen raus, um Walnüsse zu sammeln oder die Trauben, die an fast jeder Hauswand wachsen, zu ernten. Zudem werden in großen Behältern Weißkohlblätter in einer Salzlake eingelegt. Daraus wird an Weihnachten Sarmale (Kohlrouladen) gemacht.


Insbesondere müssen aber Vorkehrungen für den Winter getroffen werden. Von der herannahenden Kälte wird gesprochen wie von einem Feind, vor dem es sich zu verteidigen gilt. „A venit frigul“ (Die Kälte ist angekommen). Die größte Arbeit besteht darin, Unmengen an Holz zu hacken. Außer in den Blocks hat eigentlich jeder zusätzlich zu der Heizung einen Kachelofen. Unsere ärmsten Freunde haben ausschließlich ein kleines Öfchen, welches die schlecht isolierten Hütten beheizen muss. Die Wärme allerdings, die ein solcher Ofen verbreitet, ist ungemein behaglicher als die lauwarme Zentralheizung. Es ist immer ein schöner Moment in der Familie, wenn sich alle nach der Arbeit um das erste Feuer am Abend versammeln. Besonders in diesem Jahr bedeutet die Möglichkeit, mit Holz zu heizen, eine erhebliche Unabhängigkeit gegenüber den in die Höhe geschossenen Gaspreisen. Sobald sich die Sonne senkt, steigt der Rauch aus den Schornsteinen. Für uns ist es dann langsam Zeit, nachhause oder in die Messe zu gehen.


Domnul Pavel


Nach einem Monat des Übergangs sind nun endlich meine neuen Gemeinschaftsschwestern in Rumänien angekommen, zuerst Pauline aus Frankreich und eine Woche später Kasia aus Polen. Es hat sich gezeigt, dass meine Furcht davor, die Neuen als nun „Älteste“ in der Gemeinschaft in das Leben hier einzuführen, ganz umsonst war. Alles fügt sich so herrlich zusammen. Unsere Unbeholfenheit an manchen Stellen hat schon viele Momente der Freundschaft hervorgebracht. So wusste ich zum Beispiel nicht, wie man unsere Heizung anschaltet und habe das beiläufig bei unseren morgendlichen Schwätzchen nach der Messe erwähnt. (Die Zeiten sind leider vorbei, in denen die Mädels von Puncte Inima -rumänischer Name von Offenes Herz- im Wald Holz hacken gehen. Unser hübscher Kachelofen steht nur noch zur Zierde da.) Sofort haben die älteren Damen den einzigen Mann in der Runde, Domnul (Herr) Pavel, ebenfalls älteres Semester und ein guter Freund von uns, herbeigerufen und unser Problem geschildert. Er wollte uns natürlich sofort helfen. Im Handumdrehen saßen wir in seinem Wagen. Mit leeren Händen könne er aber nicht bei uns aufkreuzen, hat er gesagt. Also sind wir zuerst zu ihm, um nach einem Kaffee und Tüten voll Pflaumen, Eiern und Tomaten zu uns zu fahren. Unser kleines Problemchen ließ sich tatsächlich per Knopfdruck lösen... Anschließend hat Domnul Pavel auch noch unseren Garten inspiziert. Die Kürbisse hat er gelobt und direkt einen mitgenommen. Das alleinlebende Huhn (wir haben es wiedergefunden) erschien ihm allerdings äußerst depressiv.


Heute stand Domnul Pavel unangekündigt vor der Tür. Meine Bemühungen, ihm höflich zu erklären, dass wir den wöchentlichen Ruhetag haben und wir niemanden empfangen, waren vergeblich. Denn stolz hielt er eine durchsichtige Plastiktüte hoch, in der leise gurrend zwei Hühner und ein Hahn saßen. Die konnte ich natürlich nicht abweisen. Er hat sie uns einfach geschenkt. Ihr seht also, obwohl wir in einer verhältnismäßig großen Stadt wohnen, hat Deva den Charme des Landlebens nicht verloren.


Doamna Mihaela


Für Paulines Empfang hatte ich die Idee, Ciorba de Perisoare (traditionelle Suppe mit Fleischklößchen) zu kochen. Da ich aber nicht wusste, wie man dieses aufwendige Gericht zubereitet, habe ich wiederum beiläufig nach der Messe Doamna (Frau) Mihaela gefragt, ob sie nicht vorbeikommen wolle, um mir zu helfen. Einmal hatte sie schon bei uns für fünfzehn Personen gekocht und es unglaublich genossen, so viele Leute um sich zu haben. Zudem ist sie eine wunderbare Köchin. Leider ist ihr Mann vor etwa einem Jahr gestorben. Sie haben nie Kinder bekommen können und somit ist in der Regel niemand da, für den sie kochen kann. Auf meine „Einladung“ habe ich allerdings von ihr keine Antwort bekommen und sie in den zwei darauffolgenden Wochen bis zu Paulines Ankunft auch weder gehört noch gesehen. Es schien sich also im Sand verlaufen zu haben. Dennoch blieb ich stur und fing am besagten Morgen an zu kochen. Mit ein wenig Hilfe aus dem Internet würde das schon klappen, dachte ich mir. Nachdem ich die Zutaten eingekauft hatte und das erste Gemüse schon im Kochtopf gelandet ist, stand plötzlich Doamna Mihaela in der Tür. Was für eine Überraschung! Genau zum richtigen Zeitpunkt, denn ich war drauf und dran, alles falsch zu machen. Also noch einmal von vorne aber mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit haben wir dann zusammen das Essen vorbereitet. Sie hatte zudem die Zutaten mitgebracht, von denen sie zurecht schon davon ausgegangen war, dass ich sie vergessen würde. Wir haben dann zusammen mit ihrem Auto Pauline vom Bus abgeholt. Doamna Mihaela blieb zum Glück auch noch zum Essen. Ein wunderbarer Start in die neue Gemeinschaft! Für mich war das ein kleines Zeichen Gottes, dass Er unseren Dienst hier weiterführen will, auch oder gerade mit aller Unbeholfenheit, die wir ihm zur Verfügung stellen.


Alexandru und Florin


Auch ganz konkret geht es hier weiter mit dem Haus. Zurzeit wird der Dachstuhl, der vorher nur ein finsterer, verstaubter Raum ohne Fenster und ohne Treppe war, zu zwei Schlafzimmern ausgebaut. Das Projekt wird von Alexandru geleitet, unserem wohl besten und langjährigsten Freund. Als die Gemeinschaft nach Deva gekommen ist, war er Anfang/Mitte zwanzig, wie also die meisten Freiwilligen. Er hat die erste Generation Mädels von Puncte Inima in den Romavierteln vorgestellt und so die ersten Kontakte geknüpft. Seitdem sind 27 Jahre vergangen. Die jüngsten beiden seiner Kinder sind nun in unserem Alter.


Vor einigen Tagen hat Alexandru seinen Freund Florin angerufen, damit er hier bei speziellen Dacharbeiten hilft. Es war schön, die beiden zusammen bei uns zu sehen. Florin ist der Vater einer traditionellen Romafamilie, die wir unter anderem jede Woche in Mintia, einem Dorf bei Deva besuchen gehen. Seine Familie lebt dort mit der Familie seiner verstorbenen Schwester zusammen. Alexandru wiederum gehört zu der traditionellen Gemeinschaft der Ungarn in Deva, die ihre Sprache und ihre sehr naturverbundene Lebensweise beibehalten haben. Beide Männer sind also herausragende Charaktere ihrer Kulturen. Rumänisch dient eigentlich nur der Verständigung, währenddessen bei Alexandru zuhause Ungarisch und bei Florin Romani, die internationale Zigeunersprache, gesprochen wird. Auch wenn das Verhältnis der beiden Kulturgruppen nicht immer so freundschaftlich ist, teilen sie doch die gleiche Stärke, von einer Tradition getragen zu sein.


Seit dem Mittelalter leben bis heute verschiedene Volksgruppen zusammen in Transsylvanien alias Siebenbürgen unter wechselnden Königreichen. Lediglich die Deutschen, die seit dem Hochmittelalter hier übergesiedelt sind und verschiedene Städte errichtet haben, sind fast ausschließlich verschwunden. Die meisten sind zu Beginn des Kommunismus nach Deutschland geflohen. Viele wurden in kommunistische Arbeitslager verschleppt und sind dort gestorben. Die wenigen Übriggebliebenen sind fast vollständig assimiliert und haben das siebenbürgische Deutsch nicht an die nächste Generation weitergegeben. Wir haben einen Freund, Oliver, der aus Liebe zu seinen deutschen Wurzeln die deutsche Sprache eigenständig mit Hilfe von Büchern und Internetvideos gelernt hat. Er freut sich jedes Mal riesig, sich mit mir zu unterhalten.


Was genau die übrigen bis heute überlebenden Traditionen ausmacht, ist schwer zu beschreiben. Es ist jedenfalls ein großes Geschenk, Zeuge der jeweiligen Lebensweisen werden zu dürfen, die für Außenstehende und insbesondere für Ausländer in der Regel verschlossen sind. Zum einen ist da die Sprachbarriere. Außer ein paar Brocken ist es mir leider noch nicht gelungen, die wunderschöne, malerische aber höchst komplexe Sprache der Ungarn zu lernen. Zum anderen gibt es die separierten Kolonien der Roma, die niemand außer den Bewohnern selbst betritt, erst recht nicht deren Häuser. Wir Mädels sind da eine große Ausnahme.


Bei aller Verschiedenheit der Volksgruppen und dem gegenseitigen Argwohn, der damit einhergeht, ist es dann umso schöner zu sehen, wie jeder eine gewisse transsilvanische Kultur teilt. Diese findet insbesondere in den Speisen und ihrer Zubereitung ihren Ausdruck. Alle lieben Zakuska und Sarmale und viele können es mit den Erträgen ihres eigenen Gartens und der Viehställe zubereiten.


Eine weitere Gemeinsamkeit der meisten Menschen hier ist der christliche Glaube. Zwar manifestiert sich die Separierung der Gesellschaft durch die verschiedenen Konfessionen. Allein in Deva gibt es die römisch- und griechisch-katholische, die orthodoxe und die reformierte Ausrichtung sowie zahlreiche Freikirchen. So ist es nicht erstaunlich, wenn die Leute sagen, wir würden in „die Kirche der Ungarn“ gehen. Unabhängig der Glaubensgruppen konnte ich allerdings beobachten, wie tief das Bewusstsein für die Wirklichkeit Gottes im alltäglichen Leben insgesamt verankert ist. So meinte beispielsweise unser Freund Ozi (Oscar), Gott habe dieses Jahr viele Trauben geschenkt, also müsse er auch etwas daraus machen. Ein weiteres, viel existenzielleres Beispiel möchte ich später noch geben.


Je weiter die Modernisierung fortschreitet, desto unsichtbarer werden die Traditionen, bis sie wahrscheinlich irgendwann ganz verschwinden werden. Es ist praktisch gesprochen einfach ein Unterschied, ob abends am Kamin erzählt und musiziert wird oder ob jeder für sich auf sein Handy schaut und von Videoclips aus aller Welt zerstreut wird. Durch zahlreiche weitere Faktoren werden sich die über Jahrhunderte tradierten Lebenserfahrungen und Mentalitäten bald nur noch in den Sprachen widerspiegeln (um an dieser Stelle mal eine Prognose zu wagen).


Die ständigen durch Corona bedingten Schulschließungen treiben die Jugendlichen geradezu in die Mediensucht. Momentan (Ende Oktober) befinden wir uns aufgrund der schlechten Lage in zweiwöchigen „Ferien“, obwohl die langen Sommerferien erst seit Mitte September vorbei sind. Die Auswirkung davon ist die Vereinsamung vieler Jugendlicher, die ihre Situation nicht einmal beklagen, weil es so ganz bequem geworden ist. Davor geschützter sind paradoxerweise die Ärmsten, die am „sozial“ Schwächsten, die sich gar kein Handy (für jedes Kind) leisten können, die nicht isoliert im Block leben, sondern in der Gemeinschaft in der Kolonie.


Wenn wir den Kindern vorschlagen, etwas zu spielen, kommt es dann schon einmal vor, dass wir erst einmal klären müssen, dass kein Spiel mit dem Smartphone gemeint ist, sondern ein „echtes“. Jedes Mal ist es dann aber so erfrischend zu sehen, wie stark noch die Spielkultur in den Kolonien ist, auch wenn wir meistens ein bisschen nachhelfen müssen, damit ein Spiel mit mehreren entsteht.


Die Kolonien zu besuchen ist wirklich etwas Besonderes und Wunderschönes und natürlich Herausforderndes. Wenn wir ankommen, laufen uns meist schon die Kinder entgegen und die Erwachsenen grüßen aus der Ferne. Ganz anders sieht es in dem Kinderheim aus, zu dem wir jeden Sonntag gehen und dem Sozialblock „Camin“. Wir müssen dort regelrecht auf die Suche gehen, damit wir jemanden treffen, der mit uns Zeit verbringen möchte. Im Sommer war es noch einfach, draußen auf dem Gang im „Camin“ zu spielen. Meistens trafen wir direkt ein oder zwei Kinder und am Ende war es ein ganzer Haufen. Jetzt allerdings, wo es kalt und ungemütlich wird, sitzen alle in ihren kleinen Wohnungen, meist mit dem Fernseher oder dem Handy beschäftigt, weil es sonst auch nicht viel zu machen gibt auf engstem Raum. Im Camin ist eine Wohnung ca. 17 m² groß, bestehend aus einem Zimmer und einer kleinen Kochnische im Eingangsbereich sowie einem winzigen Bad. Sie gleicht einer klassischen Studentenbude, nur dass in ihr nicht selten eine Familie mit mehreren Kindern untergebracht ist.


Daniel


Als wir vor zwei Wochen dort waren, ist mir aufgefallen, dass ich gar nicht weiß, wo unsere befreundeten Kinder wohnen. In den zwei mir bekannten Wohnungen war niemand anzutreffen. Da auch keiner draußen war, blieb uns nichts anderes übrig, als durch die dunklen Gänge zu laufen, in der Hoffnung, jemanden zu treffen. Am liebsten wäre ich sofort wieder nachhause gegangen. Aber da wir nun einmal da waren, wollten wir dem auch eine Chance geben.


So vergingen etwa zwanzig Minuten, bis uns der erste Mann begegnete. Ich habe ihn gefragt, ob er wisse, wo ein Junge namens Daniel wohnt. Er wisse es nicht, gab er mit traurigem Gesichtsausdruck zurück, aber er sei auch nicht zuhause, da er, Daniel, nach einem Unfall schon seit Monaten im Krankenhaus läge. Die Wohnung der Eltern kenne er nicht. Mir wurde klar, dass wir von zwei verschiedenen Jungen sprachen, da wir den anderen zwei Wochen zuvor noch gesehen hatten. Wir gaben schließlich auf. Ein letztes Mal haben wir in die Gänge gehorcht, niemand. Schon auf dem Weg zum Haupteingang kam plötzlich Madelin, ein Junge um die acht Jahre um die Ecke. Er wolle Kinder suchen, sagte er, um Fußball zu spielen. Wir hatten also dieselbe Mission und sind schließlich mit ihm zu Antonio gegangen, den wir ursprünglich gesucht hatten. Es dauerte nicht lange und wir waren viele, haben Fußball, Fangen und Verstecken gespielt. Wieder einmal haben die Kinder vom Camin mich beeindruckt, die so einen Durst danach haben, sich zu treffen und zu spielen, aber irgendwie von selber zu schnell anfangen, sich zu streiten, um bei der Sache zu bleiben.


Auf einem kleinen Stück Rasen hinter dem Haus wuchsen orangefarbene, wilde Blumen. Sie waren so schön, dass ich sie einfach pflücken musste. Für die Kapelle habe ich mir gedacht, dann ist mir dieser Junge wieder eingefallen, der im Krankenhaus liegt. Vielleicht waren ja die Eltern zuhause und würden sich über eine kleine Geste freuen. Antonio konnte uns tatsächlich die Wohnung zeigen. Die Jungs sind dann schnell verschwunden und wir haben einfach geklopft. Ich war in dem Moment heilfroh über meinen kleinen Blumenstrauß, der uns über die Befremdung hinweghelfen sollte.


Uns hat eine ältere Dame geöffnet, die freudig aber mit ernstem Gesicht den Strauß entgegengenommen hat und uns eilig herein bat. Die zweite Person in der Wohnung war der Vater des verunglückten Jungen. Die Dame, die uns aufgemacht hatte, war wiederum seine Schwiegermutter Elena aus Cluj, die für ihn kocht, währenddessen seine Frau, also die Mutter von Daniel, im Krankenhaus in Sibiu (Herrmannstadt), 150 km entfernt Tag und Nacht bei ihrem Sohn wacht. Daniel ist das einzige Kind der Familie. Der Fünfzehnjährige hatte vor drei Monaten einen schweren Autounfall mit seinen Freunden. Er sei erst nach wochenlangem Koma aufgewacht und immer noch sehr schwach. Nächste Woche werde er entlassen, hätten die Ärzte gesagt.


Das alles konnte uns Adrian, der Vater, mit Fassung berichten. Ich habe dann anschließend versucht, uns für unseren Besuch zu rechtfertigen. Sie kannten die Mädels von „Puncte Inima“ nämlich überhaupt nicht. Ich dachte, ich müsste wenigstens erklären, warum plötzlich wildfremde Personen aus verschiedenen Ländern aufgetaucht sind. Aber das schien sie gar nicht zu stören. Sie waren einfach nur froh über den Besuch und haben uns bedingungslos empfangen. Adrian hat in seinem Leid eine tiefe Trauer und gleichzeitig eine solche Hoffnung ausgestrahlt. Gott wisse, wann er aus dem Krankenhaus komme, Gott wisse auch, wann sein Sohn wieder zu Kräften komme. Das Schicksal seiner Familie weiß er ganz in Gottes Wirklichkeit geborgen, ohne dabei eine Begründung von Gott zu verlangen.


Natürlich sind wir dann in der darauffolgenden Woche wieder gekommen, um Daniel zu treffen. Tatsächlich war er nachhause gekommen. Sein Anblick war allerdings erschreckend. Völlig abgemagert kann er nur im Bett liegen und seine Gliedmaßen ein wenig bewegen. Er hat seine Intelligenz verloren und kann kaum noch eine eigenständige Konversation führen. Wie ein kleines Kind freut er sich jetzt, wenn jemand mit ihm Augen zwinkert oder mit der Zunge schnalzt.


Meine Beklommenheit über die Situation ist allerdings schnell verflogen, denn die ganze Familie war in Festlaune aufgrund der Rückkehr des verloren geglaubten Sohnes. Es ist tatsächlich ein Wunder, dass er noch lebt. Als wir ankamen, waren bereits die beiden Großmütter, zwei Tanten und eine Cousine bei der dreiköpfigen Familie zu Besuch. Wir offerierten also, später wiederzukommen, aber sie wollten uns unbedingt jetzt schon eintreten lassen. So saßen wir also zu elft in dem kleinen Wohn- und Schlafzimmer mit Daniel. Es gab Saft und Kuchen, alle waren bei bester Laune, was für ein Fest! Die ganze Familie hat sich einfach über das Leben des Jungen gefreut. Es ging gar nicht darum, in welcher Kondition er war. Daniel selber ist viel zu kindlich geworden, um sein früheres Leben zurückzufordern.


Die Tatsache, dass er am Leben ist, überragt bei Weitem alle übrigen Details. Für mich war das zu Beginn eine gehörige Provokation, da doch die negativen Aspekte geradezu ins Auge stachen. Diese pure Freude über das Leben allerdings offenbart einen sehr schönen Aspekt der Zigeunerkultur, den ich schon oft beobachtet habe (sowohl Mutter als auch Vater sind Roma). Es geht dort gar nicht so sehr um die „Lebensqualität“. Das Leben an sich hat den entscheidenden Wert, alles andere ist zweitrangig. Wir können für die Familie beten, dass sie weiterhin nicht den Mut verliert, sich über ihren Sohn zu freuen.


Paola

Noch eine kleine Anekdote von Paola, die einen jeden Tag aufs Neue überraschen kann. Pitschnass vom Regen durchtränkt ist sie letztens zu uns gekommen. Sie hat an die Gasleitung geklopft (das funktioniert hier wie die Klingel) und hat freudig unsere Namen gerufen. Überschwänglich hat sie uns umarmt wie ein nasser Hund. Dass sie vom kalten Herbstregen völlig unterkühlt war, schien sie gar nicht zu stören. Stattdessen fing sie an, mit uns zu scherzen. Wer besitzt schon den Reichtum, sich von keinen äußeren Umständen stören zu lassen und sich einfach über die Gegenwart seiner Freunde zu freuen? Von der Arbeit sei sie gekommen und wollte mal schauen, ob jemand da ist. Wir haben sie dann unter die heiße Dusche geschickt, ihr etwas Frisches zum Anziehen gegeben und ihr am Ende noch eine Winterjacke geschenkt, die wir übrig hatten. Darüber war sie direkt ganz stolz, sie besitze nämlich gar keine, hat sie gesagt.


Das größte Geschenk dieser Zeit ist, diese Schönheit sehen zu dürfen, die wir in der Armut entdecken! Es geht nicht um ein gelungenes, abgerundetes Leben, sondern um die kleinen Momente der Ewigkeit.


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