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  • AutorenbildOffenes Herz

„Sind Sie froh zu leben?”

Auszug aus dem 5. Newsletter von Philipp, seit November 2021 auf Einsatz mit OH in Valparaíso (Chile):


Ich möchte Euch noch von Laurita erzählen, die ich mehr und mehr liebgewinne. Sie ist zwischen sechzig und siebzig Jahren alt und leidet seit vier Jahren an einem Krebs im Endstadium. Sie lebt alleine in einem kleinen Haus, das eigentlich nur ein Flur ist, mit einem Badezimmer am Anfang, einer Küche und einer Essecke in der Mitte und einem Bett am Ende. Es vergeht fast kein Tag, ohne dass Laurita uns anruft oder bei uns vorbeikommt, um wegen einer Kleinigkeit um Rat oder Hilfe zu bitten. Sie ist so gut wie taub und besitzt seit Ewigkeiten nur kaputte Hörgeräte, sodass es extrem schwer ist, ihr Dinge zu erklären oder sie auszubremsen, wenn sie in einem ungelegenen Moment anruft. Ihre Familie besucht sie selten und Freundinnen hat sie auch kaum in der Nachbarschaft. Des Öfteren sagt sie, dass sie genug vom Krebs und den Schmerzen hat und nicht mehr länger leben will. Sie fragt sich, warum sie, die niemanden hat, vier Jahre mit dem Krebs aushalten muss, und andere, die Familie und Freunde haben, innerhalb von wenigen Monaten aus dem Leben gerissen werden.

In der Freundschaft zu ihr wird mir vielleicht am klarsten, was es heißt „mit Maria am Fuß des Kreuzes zu stehen“, wie oft gesagt wird, wenn man versucht zu beschreiben, worin unsere Mission besteht:


Im April ist Roki zusammen mit Laurita zu einem Termin beim Sozialarbeiter gegangen. Roki musste ihr „übersetzen“, d. h. der schwerhörigen Laurita die Fragen des Sozialarbeiters ins Hörgerät schreien. Die Fragen waren sehr direkt: „Schaffen sie es nicht, für sich selbst zu sorgen?“, „Sind sie einsam?“, „Haben sie Depressionen?“, „Haben sie Selbstmordgedanken?“ All das musste die arme Roki Laurita fragen, fast immer war die Antwort „ja“. Die letzte Frage war: „Und insgesamt, sind sie froh zu leben?“ Roki erzählt, dass in diesem Moment Laurita gelächelt hat und gesagt hat „Ja, weil die Freiwilligen von Offenes Herz mich besuchen kommen.“


Mehr und mehr wird mit klar, was ihr unsere Freundschaft bedeutet. In der Nachbarschaft sind wir die Einzigen, mit denen es keine Geschichte von Zank und Zerrüttung gibt, vielleicht, weil wir als Ausländer weniger in den Topf der nachbarschaftlichen Gerüchteküche geworfen werden. Von den wenigen Personen, die sie sieht, sind wir die einzigen, zusammen mit dem Sozialarbeiter, der ab und zu bei ihr vorbeikommt, zu denen sie eine freie Beziehung hat. Unsere wenigen Besuche scheinen mir wie Tropfen auf einen heißen Stein. Was sind schon anderthalb Stunden in einer Woche der Monotonie und Einsamkeit?


Trotzdem sind die anderthalb Stunden manchmal sehr intensiv: Vor ein paar Tagen stand Laurita nach dem Mittagessen an unserm Zaun und sprach davon, wie es manchmal vorkommt, dass sie nicht wüsste, wozu noch leben, dass ihre Familie sie im Stich lässt usw. In diesem Moment wollte ich sie einfach umarmen, um ihr zu sagen „Laurita, Du bist nicht alleine, wir sind da und wir freuen uns, dass Du bei uns bist“. Wir haben sie ins Haus gebeten und Gosia und ich haben mit ihr einen Tee getrunken und Jenga gespielt. Es war schön, dieses Stündchen für sie da zu sein und ihr ein wenig Trost spenden zu können...

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