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  • AutorenbildOffenes Herz

Begegnungen in Villa Jardin

Victor war von 2016-2018 mit Offenes Herz in Buenos Aires. Der vorliegende Ausschnitt aus seinem zweiten Patenbrief gibt einen Eindruck vom Leben vor Ort.


In Villa Jardin gibt es, vor allem in den kälteren Jahreszeiten, täglich eine Essensausgabe in der Küche unserer Gemeinde. Diese Essensausgabe nennt sich hier „Comedor“ und wird von einer Frau aus der Gemeinde namens Antonia geleitet. Jeden Tag findet sie sich schon ca. 2 Stunden vor der Ausgabe mit ein paar anderen Freiwilligen der Gemeinde (meist ältere Damen) in der Gemeindeküche zusammen, um das Essen zuzubereiten. Im Anschluss wird das Essen dann an die schon vor der Küche wartenden Obdachlosen ausgeteilt. Für diesen Prozess des Austeilens kommen wir dann, meist zu zweit oder allein, um dabei zu helfen. Zur Speisung kommen nicht ausschließlich Obdachlose sondern auch Familienväter oder Mütter, die kein Geld für warmes Essen haben (seit es hier im Land eine Wirtschaftskrise gibt, essen die Ärmeren aufgrund der erhöhten Essenspreise überwiegend Brot mit Butter oder „Dulce de Leche“ zum Mittagessen). Unser Ziel bei der Essensausgabe ist es nicht nur dafür zu sorgen, dass die Menschen ein anständiges Mittagessen bekommen, sondern viel mehr, die einzelnen Personen kennen zu lernen. Denn gerade diese Menschen leiden nicht nur unter Mangel an Hygiene oder Essen, sondern auch an Einsamkeit, Verlassenheit und Traurigkeit. Ich habe dort nun schon einige Male mit ein paar älteren Herren gesprochen. Wenn ich sie nur begrüße sehe ich gleich die Freude in ihren Gesichtern. Wir sprechen meist über sehr einfache Dinge. Sie fragen mich über meine Herkunft aus, über das, was ich zu Mittag essen werde, manchmal sprechen wir auch darüber, wie weit die Wissenschaft heute ist (dies natürlich auf sehr einfachem Niveau). Ich kann im Gespräch mit ihnen besonders spüren, wie sehr ihre Seele nach echter Liebe, nach einem Freund, nach einem Zuhörer dürstet. So ist es für mich immer eine sehr schöne Erfahrung, dorthin zu gehen und durch meine Präsenz, mein offenes Ohr, Freund zu sein. Es beeindruckt mich auch sehr zu sehen, wie Antonia jeden Tag den Menschen treu ist, denen sie sich durch ihre Arbeit verpflichtet. Trotz ihrer geringen Körpergröße rührt sie mit der großen Kelle in dem großen Topf herum und ist nicht darum besorgt, ob ihre Kleidung von riesigen Fettspritzern beschmutzt wird. Dabei spricht sie jeden Einzelnen beim Namen an und weiß genau, wie viel er braucht, wie viele Kinder er hat etc. Diese Hingabe berührt mich sehr. Sie schafft in ihrer Küche jeden Mittag eine Gemeinschaft, die für Viele ein Licht, ein Ort der Liebe ist.



Vor einiger Zeit habe ich mit meinem Gemeinschaftsbruder Guillermo eine Freundin von uns besucht. Sie heißt Sahrah und ist 39 Jahre alt. Sahrah lebt allein. Auch interessiert sich fast niemand für sie. Ihr Haus hat drei Räume: einen Eingangsraum, in dem ihr Hund angekettet ist, eine Küche und ein Schlafzimmer. Sarah ist so arm, dass sie ihrem Hund fast nie etwas zu essen geben kann, oft isst sie sogar selber nichts. Sie ist sehr verbittert und launisch. Manchmal trinkt sie Mate mit uns, manchmal beschimpft sie uns. Nur sehr selten hat sie ein Lächeln in ihrem Gesicht. Guillermo und ich sind sie besuchen gegangen, weil sie Guillermo am Tag zuvor per SMS geschrieben hatte, daß sie sich zu alleine fühlt und sich umbringen will. Als wir an die Tür klopften schrie sie uns schon an, ob wir denn nicht etwas geduldiger sein könnten. Ein wenig später, während wir mit ihr in ihrer Küche saßen und mit ihr sprachen, fiel mein Blick immer wieder auf ihren Hund. Ein armes Tier; total abgemagert und durch eine kurze eiserne Kette sein Leben lang von der Freiheit entband. Der Raum ist dunkel und ihm bleibt nicht viel Platz, um sich zu bewegen. Als ich dieses Tier betrachtete, wurde mir immer klarer, dass Sahrah als Mensch, mit all ihrer Würde, genau dieses Leid mit ihrem Hund teilt. Immer ist sie allein, niemandem ist ihr Leben wichtig. Guillermo musste an diesem Tag viel Geduld mit Sahrah haben, weil sie sehr hart mit ihm umging. Sie drang mit einigen Beschuldigungen auf ihn ein und lies ihm nicht viel Raum, sich zu verteidigen. Als das Gespräch jedoch die Richtung wechselte begann sie mehr von sich selbst zu sprechen. Und als sie über ihre Einsamkeit sprach, darüber, dass sie keine Lust mehr hat auf die Straße zu gehen, als sie beschrieb, wie leer ihr Leben ist, da fing sie an zu weinen. Es ist für uns eine große Freude und Ehre, dass Sahrah ihr Herz vor uns öffnete. Welch eine Gnade! Guillermo sagte mir, dass dies das erste Mal war, das er sie weinen sah. Danach war Sahrah viel entspannter, lachte und scherzte mit uns sogar ein wenig. Ich hoffe, dass unsere Freundschaft zu ihr durch diesen Besuch nun viel intensiver wird, dass wir bei jedem Besuch ein Licht in der Dunkelheit ihrer einsamen Küche sein dürfen. Sahrah besucht uns mittlerweile viel öfter in unserem Haus und ist immer freundlicher mit uns. Heute half sie mir sogar beim Putzen und sagte mir, dass dies doch selbstverständlich sei. Vorher hatte sie uns immer zum Helfen ausgenutzt, jetzt dient sie uns! Ein großes Geschenk!

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